Georg Friedrich Händel:
Giulio Cesare in Egitto
Jennifer Larmore, Barbara Schlick,
Bernarda Fink, Derek Lee Ragin,
Marianne Rorholm, Furio Zanasi
Concerto Köln, René Jacobs
4 CDs, harmonia mundi france 1991
Es gibt Musik, bei der ich, wenn ich einmal in sie eingetaucht bin, mir nicht mehr vorstellen kann, daß es etwas Schöneres, Beglückenderes geben könnte als das, was ich gerade höre. Mit Händel geht mir das regelmäßig so. Ich habe, so weit ich mich erinnern kann, noch nie ein wirklich uninteressantes Werk aus seiner Feder kennengelernt; der Reichtum an Schönheiten hingegen scheint mir geradezu unermesslich.
Besonders gut kommt das meines Erachtens in seinen Opern rüber. Die haben in ihrem Umfang häufig wagnersche Ausmaße: mit drei bis vier Stunden reine Musik muß man da schon rechnen. Genug Zeit also, um so richtig reingesogen zu werden in die Händelsche Klangsprache. Auf der Suche nach Begründungen, warum diese so einzigartig ist, stoße ich am ehesten auf den Aspekt der Ausgewogenheit und inneren Harmonie: zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen Virtuosität und Emotion, zwischen Seelenbalsam und Dramatik. Anders als romantische Oper, bei denen es um ein sich entwickelndes, zuspitzendes Auf und Ab der musikalischen Dramaturgie geht, herrscht hier eher ein in sich stimmiges Gleichmaß. Barocke Arien wollen keine analytische psychologische Innenschau, sondern eher die Allegorie eines Gefühls oder Zustands (wie Hoffnung, Rache, verzichtende Liebe) sein, eine Affektdarstellung in Reinform, wie eine altgriechische Statue oder ein Renaissance-Gemälde. Nicht die möglichst scharfe, individuelle Charakterisierung zählt, sondern die kunstvolle Abbildung einer allgemeingültigen Aussage. Und das Unverwechselbare an Händel ist, daß er diese allegorische Qualität mit der größtmöglichen Detailfreude und -phantasie füllt. Unglaublich, was ihm immer wieder zur klassischen ABA-Form einer Arie einfällt.
Gerade komme ich aus der Komischen Oper Berlin, nach einem sehr beglückenden Zusammentreffen mit Julius Cäsar. Erfreulicherweise ist allein schon durch drei Händel gewidmete Opernfestivals in Deutschland gesichert, daß man immer wieder in den Genuss kommen kann, seine Werke auch live auf der Bühne zu erleben. Und auch der CD-Markt scheint sich Händel gegenüber aufgeschlossen zu zeigen: während die Zahlen ambitionierter neuer Gesamtaufnahmen aus dem romantischen Repertoire fast gegen Null gehen, bringt die Alte Musik doch immer wieder seltene Opernschätzchen und Neuentdeckungen ans Tageslicht. Nicht immer ist das Niveau berauschend: sowohl was die kompositorische Vorlage (manche Werke sind nicht zu Unrecht vergessen!), die (häufig live-haftige) Klangqualität, die Ausgewogenheit des Sängerensembles oder die interpretatorische Feinarbeit angeht. Bei Giulio Cesare ist man jedoch auf allen Ebene in der Königs-Klasse gelandet. Neben anderen händelschen Repertoire-Lieblingen wie Xerxes, Belshazzar oder Rinaldo sind Cäsar und Cleopatra, was ihren Bekanntheitsgrad und monarchischen Rang angeht, ohnehin kaum zu übertreffen. Und das, so finde ich, trifft auch auf die ihnen gewidmete Oper zu.
René Jacobs widerum ist der König der Barockoper, was er anfasst, wird auf Anhieb in den Referenz-Adel aufgenommen. Unter anderem Ihm ist es zu verdanken, daß die alte Musik auf der Bühne vom akademischen Purismus zur Körperlichkeit zurückgefunden hat, und was mir bei manchen geistlichen Werken etwas zu viel "Theater" ist, kommt mir bei Händel ganz recht. Zumal wenn es durch solch hervorragende Solisten getragen wird.
Die Titelrolle des Julius Cäsar wird in der Aufführungstradition häufig durch einen Bariton übernommen; das kommt sicherlich der Glaubwürdigkeit der Rolle wie auch der klanglichen Abwechslung in einer stark durch Frauenstimmen dominierten Oper zugute. Klanglich jedoch bietet die Version in der Mezzosopran-Lage meines Erachtens deutlich mehr Strahl, hebt sich besser aus der Instrumentation heraus. Wie immer im Zusammenhang mit einer Partie, die ursprünglich für einen Kastraten geschrieben wurde, gibt es bei der Besetzungsfrage des Cäsar (ob Mann, ob Frau) keine eindeutige Lösung. Jennifer Larmore, die führende Rossini-Interpretin ihrer Generation und sonst eher selten in der Alten Musik anzutreffen, ist eine überraschende, aber höchst überzeugende Wahl. Sie verfügt nicht über das typische maskuline Timbre vieler Händel-Altistinnen, dafür aber über die größte belcantistische Beweglichkeit und Ausdrucksvielfalt, um die breit angelegte Rolle des Protagonisten (mit allen heldischen, kriegerischen, schwärmerischen, naturverbundenen Auftritten) ausfüllen zu können. Welcher damalis aktive Countertenor hätte ihr in dieser Perfektion folgen können?
Außerdem bietet sich durch Larmores eher feminines Profil der ideale Kontrast zu ihrem Gegenspieler Tolomeo. Derek Lee Ragin, der noch nie mit dem Schönklang eines Michael Chance oder Andreas Scholl punkten konnte, vermag hier mehr denn je seine charakteristische Stimmfarbe und seine virtuose Geläufigkeit in die Waagschale zu werfen. Als "reiner Liebender" (wie Orpheus oder der junge David) konnte er mich nicht überzeugen, als ägyptischer König, der mehr durch Neid, nervöse Begehrlichkeiten (und ein latentes Minderwertigkeitsgefühl?) getrieben als durch wirkliche Kraft geadelt wirkt, ist er, mit seiner immer etwas hysterischen Ausstrahlung, absolut erste Wahl.
Und noch eine weitere, ganz anders gelagerte Mezzo-Partie gesellt sich dazu: die tragische Rolle der römischen Witwe und Mutter Cornelia. Kaum eine Händel-Rolle ist so eindeutig auf langsame, expressive Arien (des Schmerzes, der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit) hin ausgerichtet und bietet im durchaus nicht unblutigen szenischen Verlauf so viele zu Herzen gehenden Ankerpunkte für verschmelzendes Mitgefühl. Die warme Klangfarbe und die zutiefst menschliche Ausstrahlung der Altistin Bernarda Fink, die sie mittlerweile auch im Liedfach von Schumann bis Mahler in die erste Reihe der Interpretinnen gehoben hat, weiß vom ersten Augenblick an Begeisterung und größte Sympathien aufzurufen.
Die Rolle des Sesto, des unter dem Druck des Rachesuchens stehenden Sohnes der Cornelia, würde heutzutage vielleicht von einem der neuen männlichen Sopranisten gesungen werden; ich bin jedoch ganz froh, daß René Jacobs hier mit der norwegischen Mezzo-Sopranistin Marianne Rorholm eine weibliche Sängerin erwählt hat, die genug Durchschlagskraft für den kämpferischen Furor, aber auch weiche Farben für die zurückgenommenen, leidenden Arien besitzt und gleichzeitig so schlank, leicht und jugendlich daherkommt, daß sie als Sohn gegenüber Bernarda Fink stets glaubhaft bleibt.
Zur Vervollständigung sei erwähnt, daß noch eine fünfte Partie den Reigen der Mezzos komplettiert: die des Eunuchen Nireno, des Vertrauten der Cleopatra, verkörpert durch Dominique Visse, einen französischen Countertenor der ersten Stunde, der bis heute im Amt ist als René Jacobs erster Mann für die komischen, kauzigen, das Geschehen um den Faktor Humor bereichernden Nebenrollen. In der im Anhang befindlichen, nur in einer Fassung vorkommenden Soloarie ist seine trotz des nasalen timbres leichte Höhe und Beweglichkeit zu bewundern.
Einzig die Besetzung der Cleopatra, der einzigen wirklichen Sopranpartie des Stückes, läßt Raum für Diskussionen. Barbara Schlick, die Engelsgleiche, die als mitleidende oder trostspendene „gläubige Seele“ in Bachs Passionen oder Brahms' Requiem Unübertreffliches geleistet hat, die aber schon in den Koloraturen der Mozartschen c-moll-Messe überfordert wirkt, kann die Breite des Ausdrucksspektrums der ägyptischen Königin nicht im Ansatz abdecken. Weder die höfisch taktierenden Machtaffinitäten, die kapriziösen Verführungskünste, noch die tiefe Leidenschaft aufrichtigen Liebens wirken bei ihr umfassend ausgelotet. Freuen kann man sich bei ihr über eine schöne Stimme, nicht viel mehr; da wäre eine dominantere, potentere Sopranistin nach dem Schlag Simone Kermes (mit der entsprechenden Portion Feuer und Zickigkeit) deutlich passender gewesen. Ich habe mal gehört, daß für diese Produktion eigentlich Maria Bayo (auch sie eine Belcanto-Spezialistin) im Gespräch gewesen wäre: Geschmacksache. Mich hätte die junge Dorothea Röschmann in dieser Rolle interessiert...
Und die Männer? Da der zentralen allegorischen Darstellung von Affekten ohrenscheinlich eher hohe Stimmlagen zugeordnet waren, kamen den Tenören, Baritonen und Bässen in Barockopern tendenziell eher strukturell komplettierende Funktionen zu: ausführende Offiziere, Diener, Priester, Vertraute,- Figuren, die dabei halfen, das Denken und Empfinden der Protagonisten zu kommentieren, zu kommunizieren oder zu konkretisieren. Das bietet nicht häufig nicht allzuviel Raum für differenzierte, eigenständige Charakterzeichnungen, ist jedoch, wie alles bei Händel, auch im kleinsten Detail phantasievoll durchgestaltet und attraktiv für die Ausführenden. Die Baß-Rolle des Achilla, des Generals an der Seite des Ptolemeus, erhält im Vergleich jedoch nicht nur durch ihre intrigenschwere szenische Funktion ein bemerkenswertes Gewicht: der im Liebeswerben und durch die Untreue des eigenen Herrn schwer enttäuschte Militär bietet hier durchaus ein eigenes Profil, das durch Furio Zanasi, einen vertrauten Charakterkopf der italienischen Barockoper, kraftvoll und ausdrucksstark mit Leben gefüllt wird.
Über das Orchester muß zu guter Letzt kaum ein Wort verloren werden: Concerto Köln ist der vielleicht markanteste historisierende Klangkörper Deutschlands und gibt sich bestens in den temperamentvollen Duktus des Dirigenten hinein,- auf daß auch jeder Zuhörer in den händelschen Schwung hineingezogen werden, sich darin königlich amüsieren - und danach geadelt daraus hervorgehen möge.
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