Samstag, 27. Juni 2015

Polnische Perle

Produkt-InformationEdyta Geppert:

Pytania do ksiezyca


PolyGram Polska 1997

Liebe Edyta,

Gleich fahre ich los, nach Wroclaw. Ich freue mich schon riesig auf ein paar Tage Freizeit, Kultur, Kulinarik, Atmosphäre in schöner Altstadtkulisse. Mein letzter Besuch im Dezember war ja ganz konkret mit Deinem Kommen abgestimmt, nachdem ich Dich schon zwei Mal ganz knapp verpasst hatte. Einmal war Dein Konzert drei Tage, einmal drei Wochen später gewesen, wie ärgerlich. Gut, daß ich Deine musikalischen Reisen heutzutage auf Deiner Website verfolgen kann, das macht es wirklich einfacher.

Du wirst Dich nicht an mich erinnern. Dabei saß ich im Konzert in der ersten Reihe, genau in der Mitte. Witzig, daß genau da noch ein Platz frei war. Ich war derjenige, der am wenigsten mitgelacht hat. Einfach deswegen, weil ich kein einziges Wort verstanden habe. Außer „Danke“ und „Guten Abend“ vielleicht. Und daß der ältere Herr an Deiner Seite, der sich meines Erachtens viel zu viel Zeit für seine Moderationen gelassen hat, Dein Gatte war, musste mir auch meine Nachbarin erklären. Auf Englisch natürlich.
Was mich Jahr für Jahr mit so großer Begeisterung nach Polen führt, hat durchaus viel mit Musik zu tun. Und Du bist für mich der Ausgangspunkt von alledem. Vielleicht kennst Du so einen Gedanken  ja auch: wenn ich nicht (nachweislich) in Soundso geboren wäre, müsste ich eigentlich aus … sein, allein von der Musik her. Ganz ohne Übertreibung: Ich bin musikalisch noch in keinem anderen Land so fündig geworden wie in Polen. Ihr habt so eine ganz bestimmte Stilmischung, die sich irgendwo zwischen Chanson und Jazz ansiedelt, manchmal mit ein bißchen Folk, manchmal mit Kabarett oder Soul durchsetzt, aber immer ganz unverwechselbar polnisch: das scheint wie für mich persönlich gemacht zu sein. Wenn ich einmal im Jahr die Regale in den Breslauer CD-Läden nach mir unbekannten Alben durchstöbere, weiß ich schon: stilistisch gefällt mir mindestens die Hälfte. Und die Sprache? Wie gesagt: Ich verstehe kein Wort, in meinen Ohren hat die zischelnde Lautfolge jedoch etwas sehr Intimes, Zerbrechliches, passend zu den feinsinnigen musikalischen Frakturen. Und die Verbundenheit, die mir allerorten zu den Textdichtern entgegenklingt, verleiht mir die Überzeugung, daß da auch textlich viel Poetisches, Tiefgründiges rüberkommt.

Und Du hast mich damals auf den Geschmack gebracht, bei unserem ersten Polenurlaub vor 15 Jahren in Masuren. Schon im Olsztyn haben ich Deinen Covern angesehen, daß das Musik für mich sein würde, in Suwalki habe ich dann trotz des recht hohen Preises zugegriffen: in der Zeit vor Amazon hatte man noch lernen müssen, sich schnell zu entscheiden. Deine Stimme war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte: einfach aufgrund der optischen Ähnlichkeit hatte ich Dich irgendwo zwischen Barbara Thalheim und Chava Alberstein angesiedelt: warm, fraulich, und dennoch mit Kern und Mut zur Deutlichkeit. Bis heute bist Du stimmlich meine liebste polnische Sängerin geblieben: niemals beginnst Du zu säuseln, zu hauchen, zu quetschen (all das, was viele weiße Sängerinnen tun, wenn sie jazziger, cooler klingen wollen). Das, was Du singst, bleibt bis in alle Poren: Lied. Du bleibst Dir in Deinen Alben treu, anders als viele Deiner Kolleginnen wagst Du nicht viele Experimente. Deine Kooperationen mit führenden Jazz-Pianisten Deines Landes (z.B. im Album "Moje Krolestwo") gelten für mich als das Optimum, überaus verdichtet, unschlagbar intensiv.

Dennoch möchte ich heute bei "Pytania..." bleiben, meiner Einstiegsdroge. Eine Musik wie die masurische Landschaft: weit, eben, mit viel Ruhe und Tiefe, ohne explosive Sensationen, ohne plötzliche Überraschungen, dafür aber mit einer schnell sich einstellenden Vertrautheit. Und: eine kaum beschreibbare (Gast-)Freundlichkeit und Wärme, vielleicht sogar Mütterlichkeit. Im Zentrum steht die Gitarre, ein wenig Joni Mitchell, ein wenig Sara K. klingt da durch, ein bißchen Bossa Nova auch, der zarten Weise. Das ganze mit dezentem Jazz- oder auch Blues-Feeling, aber ohne Nachdruck, ohne Prädikat, einfach aus sich heraus. Alle anderen Instrumente reihen sich dezent ein, ein bißchen Percussion, eine unbeschwert swingende Mundharmonika. Am meisten beeindruckt mich der Pianist: die Verantwortung an die Gitarre abgebend, kann er sich zurücklehnen, spielt hier und da auf leichtfingrigste Weise jazzige Schnörkel und Girlanden hinein, sorgt für maximale Transparenz und Entspanntheit selbst in der Improvisation. Das sind Tugenden, die zwanzig Jahre später bei Norah Jones als so wohltuend und erfrischend empfunden wurden.

Die Lieder selbst: sind richtige Lieder, mit großem Reichtum an weitausschwingenden melodischen Wendungen, harmonisch in abgedunkelte Farben eingetaucht, mit Potenzial zur Zeitlosigkeit. Das transportiert sich auch beim Live-Eindruck: schon mit den ersten Tönen überträgt sich das Erkennen und die mit dem Lied verbundene Geschichte aufs Auditorium, das ganze Publikum singt (innerlich, aber spürbar) mit bei den traurigen, freundlichen, hoffnungsfrohen kleinen Perlen. Und was sich schon von der CD aus vermittelt, wird auf der Bühne umso deutlicher: Du bist auch eine Schauspielerin, Edyta. Jedes Lied ist eine kleine Szene, eine Tragödie oder auch ein Sketch, den Du vorführst, durchlebst.

Seit Langem warte ich schon auf eine neue Aufnahme, auf neue Lieder, neue Geschichten. Vielleicht lerne ich auch mal ein bißchen polnisch dafür. Und vielleicht werde ich ja jetzt in Wroclaw fündig. Bis dann!

Edyta bei Amazon

Montag, 22. Juni 2015

Nie zu spät

Produkt-InformationPrince: Parade 


Warner Bros. Records 1988

Es gibt Erkenntnisse, die kommen nie. Das gilt auch für den musikalischen Bereich. Man kann problemlos eines Tages von der Lebensbühne abtreten, ohne jemals auch nur im Ansatz verstanden zu haben, warum sich manche Leute mehrere Stunden Free Jazz anhören. Oder warum andere bei Countrymusic feuchte Augen kriegen. Oder noch andere in lang anhaltende Euphorie geraten, weil sie Karten für 15 Stunden Wagner ergattern konnten.

Manches versteht man allerdings später,- später als andere zwar, aber doch. Ich zum Beispiel frage mich hin und wieder, warum die 80er so an mir vorbeigezogen sind. Neulich, bei einer vatertagsähnlichen Wanderaktion, als wir uns unter alten Freunden darüber unterhielten, wie sich Eindrücke und Vorlieben aus der Jugend wieder zu Wort melden und erneuern können, kam die Sprache auf Prince. Für viele einer der unsterblichen Superstar des Pop, war er für mich bislang ein weißes Blatt. Nun gut, nicht ganz weiß: Ich habe mich dann doch daran erinnert, daß sein Erfolgsschlager „Kiss“ für mich einer der Songs ist, der in den Party-Phasen, in denen die häufig eher leidgehörten 80er-Hits für Stimmung sorgen sollen, immer funktioniert. Alterslos funky, frisch und knackig mit seiner grandios kühlen Soundregie und den unverwechselbar fisteligen Vocaleinlagen. Das ist das Tolle in der Kunst: Originalität und Kreativität ist in allen Formen und Genres möglich. So nahm ich von der Wanderung den Entschluss mit nach Hause, mich doch noch mal mit dem Prince der 80er zu beschäftigen.

„Parade“ nun ist das begeisternde Ziel meiner Suche. Mir war klar: „Kiss“ musste unbedingt dabei sein, und die bekannten Suchmaschinen führten mich zuerst zu diversen Best-of-Alben. Sorry an alle Fans, aber da konnte ich nicht andocken: für meinen Geschmack zu synthetisch, zu eingängig, zu hitparadenorientiert, insbesondere auch in den ruhigeren Stücken. Zum Glück landete ich am Schluß bei dem Album, aus dem „Kiss“ seinerzeit ausgekoppelt: „Parade“. Drei Minuten später lag die musikalische Überraschung des Frühjahrs in meinem virtuellen Warenkorb. Welcher Pop-Banause meiner Prägung hätte das gedacht: ein Lied individueller, verrückter, geschickter gemacht als das andere.

Vorausgeschickt: die Produktionsbedingungen dieses Albums waren wohl sehr komfortabel. Aus anderen Amazon-Kommentaren erfuhr ich, daß das Album als Randprodukt eines Musikfilms entstand; das erklärt das schon beim ersten Reinhören positiv herausstechende Faktum, daß auch für kleinste Details akustische Instrumente verwendet wurden, statt auf das synthetische Soundarchiv zurückgreifen zu müssen . Und zwar nicht nur dann, wenn z.B. in der zweiten Strophe der großen, unverzichtbaren Liebesballade das große, unverzichtbare Streichorchester benötigt wird (wie hier in dem instrumentalen Intermezzo "Venus de milo"), sondern auch an Stellen, an denen es man in keiner Weise erwartet: wenn der knochentrockene Electro-Beat in "I wonder u" durch das Geblubber von echten Querflöten kontrapunktiert wird. Oder wenn in dem durchaus radiotauglichen "Girls and boys" ein wunderbar ironisches, wimmerndes Synthie-Solo auf die entspannt-rotzigen Einwürfe des Baritonsaxophons antwortet. Dieser Eindruck zieht sich durch das gesamte Album: eine solche schräge Vierspieltheit muß den Machern echt Spaß gemacht haben. Ich möchte mal versuchen, meine Begeisterung an drei Tugenden dieser Produktion festzumachen:

1. Kunst ist Spielen. Es geht nicht darum, ein Dutzend leichtverkäuflicher Top-Ten-Kandidaten aneinanderzuhängen, sondern um das Verwirklichen von Ideen. Spleens könnte man auch sagen. Träume? Ludwig der Zweite von Bayern fällt mir ein und seine absurden, schwärmerischen, dem Märchen entstiegenen Traum-Produkte: Bühnenkulissen zum Drinleben, dazu die Musik von Wagner: In einem Film steckte auch er? Es würde mich durchaus interessieren, ob Prince sein Volk, seine Fans, durch diese Produktion ebenso verloren zu gehen drohte wie dem Märchenkönig seinerzeit die Tuchfühlung zu seinem Volk. Konnte man sich bei Ersterscheinung dieses Kunstprodukts tatsächlich mit seinem Schöpfer identifizieren? Wie ist damals denn zum Beispiel Partnerschaft zwischen schrägen Streicherkaskaden, krudem Egitarrenjaulen und markigen Akkord-Einwürfen des Pianos in der Schlußrunde des ansonsten doch recht zugänglichen "Anotherloverholenholenyohead" angekommen? Über die Erinnerung eines Fans an die ersten Hörerlebnisse würde ich mich sehr freuen...

2. Kunst ist Kontakt. Dieses Album erzählt nämlich nicht nur von der Entäußerung persönlicher Verschrobenheiten, sondern auch von einer Annäherung seine Umgebung, von einer Begegnung: die filmische Grundlage nämlich spielt in Paris, und so lassen sich auch diverse Anklänge und Reminiszenzen an den französischen Chanson heraushören. Nicht im Sinne platter Zitate oder Stilkopien, sondern stets durch die eigene stilistische Brille gesehen, immer mit einem Hauch Verfremdung überzogen. Das kommt mir, der ich mich dem Chanson deutlich näher fühle als dem amerikanischen Dance-Pop, natürlich sehr entgegen. Und auch das Pariser Faible für Jazz mischt sich auf angenehm unprätentiöse Weise zwischen die Zeilen, besonders in der charmanten Swing-Ballade "Do U lie?", in der sich streichergestützte Bigband ganz pariserisch von den Girlanden eines Akkordeons umspielen lassen. Erstaunlich auch, wie viele Tonlagen Prince in diesem einen, kurzen Stück durchschreitet. Begegnung mit sich selbst?

3. Kunst ist Konzentration. Manche Musiker, die projektweise die Gelegenheit haben, mit einem Filmorchester aus dem Vollen zu schöpfen, er-schöpfen sich und die Hörer irgendwann mit einem dauerhaften Griff zum Tutti. Auch der Reichtum kann ermüden, das dürfte jeder Prinz wissen. Drum ist es wohl Merkmal jeden echten Adels, die Kunst der Konzentration und Reduktion zu beherrschen. Das muß noch nicht mal Understatement heißen: mancher Effekt zeigt sich umso attraktiver, je sparsamer seine Umgebung gestaltet ist. „Parade“ ist für mich ein Musterbeispiel guten Timings: die meisten Stücke sind eher so kurz, daß man ihr Vergehen bedauert, sämtliches Schmuckwerk, sämtliche Exzentrik ist so pointiert eingesetzt, daß sie interessiert, aber nicht erschlägt. Man erinnere sich an das knackige, prononcierte, perfekt getimte Gitarrensolo in "Kiss". Und zu guter letzt: "Sometimes it snows in April", eine mit Klavier und Westerngitarre wirklich handgemachte Ballade, die sich von Anfang bis Ende Zeit läßt, dezent mit delikaten harmonischen Finessen überrascht und bis zum Schluß ohne erpresserische Steigerungen, Modulationen, Ausstaffierungen auskommt. Ist das typisch Prince? Dann habe ich wirklich ein vollkommen falsches Bild von ihm gehabt...

Der Film "Under the cherry moon", so behaupten selbst eingefleischte Fans, sei kein Muß: eher ein egomanischer Selbstinszenierungstrip als echte Kunst. Nun, das klingt tatsächlich nicht so, als müsste ich ihn gesehen haben, die CD ist da schon Film genug. Schließlich zeigt mir das Hören, daß da doch wesentlich mehr Liebe im Spiel ist als bloße Eigen-Liebe: die Liebe zum Detail, zur Idee,zum Humor. Und zum Verlieben ist es bekanntlich nie zu spät.

Parade bei amazon

Sonntag, 14. Juni 2015

Königs-Klasse

Produkt-InformationGeorg Friedrich Händel:

Giulio Cesare in Egitto


Jennifer Larmore, Barbara Schlick,
Bernarda Fink, Derek Lee Ragin,
Marianne Rorholm, Furio Zanasi

Concerto Köln, René Jacobs

4 CDs, harmonia mundi france 1991

Es gibt Musik, bei der ich, wenn ich einmal in sie eingetaucht bin, mir nicht mehr vorstellen kann, daß es etwas Schöneres, Beglückenderes geben könnte als das, was ich gerade höre. Mit Händel geht mir das regelmäßig so. Ich habe, so weit ich mich erinnern kann, noch nie ein wirklich uninteressantes Werk aus seiner Feder kennengelernt; der Reichtum an Schönheiten hingegen scheint mir geradezu unermesslich.

Besonders gut kommt das meines Erachtens in seinen Opern rüber. Die haben in ihrem Umfang häufig wagnersche Ausmaße: mit drei bis vier Stunden reine Musik muß man da schon rechnen. Genug Zeit also, um so richtig reingesogen zu werden in die Händelsche Klangsprache. Auf der Suche nach Begründungen, warum diese so einzigartig ist, stoße ich am ehesten auf den Aspekt der Ausgewogenheit und inneren Harmonie: zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen Virtuosität und Emotion, zwischen Seelenbalsam und Dramatik. Anders als romantische Oper, bei denen es um ein sich entwickelndes, zuspitzendes Auf und Ab  der musikalischen Dramaturgie geht, herrscht hier eher ein in sich stimmiges Gleichmaß. Barocke Arien wollen keine analytische psychologische Innenschau, sondern eher die Allegorie eines Gefühls oder Zustands (wie Hoffnung, Rache, verzichtende Liebe) sein, eine Affektdarstellung in Reinform, wie eine altgriechische Statue oder ein Renaissance-Gemälde. Nicht die möglichst scharfe, individuelle Charakterisierung zählt, sondern die kunstvolle Abbildung einer allgemeingültigen Aussage. Und das Unverwechselbare an Händel ist, daß er diese allegorische Qualität mit der größtmöglichen Detailfreude und -phantasie füllt. Unglaublich, was ihm immer wieder zur klassischen ABA-Form einer Arie einfällt.

Gerade komme ich aus der Komischen Oper Berlin, nach einem sehr beglückenden Zusammentreffen mit Julius Cäsar. Erfreulicherweise ist allein schon durch drei Händel gewidmete Opernfestivals in Deutschland gesichert, daß man immer wieder in den Genuss kommen kann, seine Werke auch live auf der Bühne zu erleben. Und auch der CD-Markt scheint sich Händel gegenüber aufgeschlossen zu zeigen: während die Zahlen ambitionierter neuer Gesamtaufnahmen aus dem romantischen Repertoire fast gegen Null gehen, bringt die Alte Musik doch immer wieder seltene Opernschätzchen und Neuentdeckungen ans Tageslicht. Nicht immer ist das Niveau berauschend: sowohl was die kompositorische Vorlage (manche Werke sind nicht zu Unrecht vergessen!), die (häufig live-haftige) Klangqualität, die Ausgewogenheit des Sängerensembles oder die interpretatorische Feinarbeit angeht. Bei Giulio Cesare ist man jedoch auf allen Ebene in der Königs-Klasse gelandet. Neben anderen händelschen Repertoire-Lieblingen wie Xerxes, Belshazzar oder Rinaldo sind Cäsar und Cleopatra, was ihren Bekanntheitsgrad und monarchischen Rang angeht, ohnehin kaum zu übertreffen. Und das, so finde ich, trifft auch auf die ihnen gewidmete Oper zu.

René Jacobs widerum ist der König der Barockoper, was er anfasst, wird auf Anhieb in den Referenz-Adel aufgenommen. Unter anderem Ihm ist es zu verdanken, daß die alte Musik auf der Bühne vom akademischen Purismus zur Körperlichkeit zurückgefunden hat, und was mir bei manchen geistlichen Werken etwas zu viel "Theater" ist, kommt mir bei Händel ganz recht. Zumal wenn es durch solch hervorragende Solisten getragen wird.

Die Titelrolle des Julius Cäsar wird in der Aufführungstradition häufig durch einen Bariton übernommen; das kommt sicherlich der Glaubwürdigkeit der Rolle wie auch der klanglichen Abwechslung in einer stark durch Frauenstimmen dominierten Oper zugute. Klanglich jedoch bietet die Version in der Mezzosopran-Lage meines Erachtens deutlich mehr Strahl, hebt sich besser aus der Instrumentation heraus. Wie immer im Zusammenhang mit einer Partie, die ursprünglich für einen Kastraten geschrieben wurde, gibt es bei der Besetzungsfrage des Cäsar (ob Mann, ob Frau) keine eindeutige Lösung. Jennifer Larmore, die führende Rossini-Interpretin ihrer Generation und sonst eher selten in der Alten Musik anzutreffen, ist eine überraschende, aber höchst überzeugende Wahl. Sie verfügt nicht über das typische maskuline Timbre vieler Händel-Altistinnen, dafür aber über die größte belcantistische Beweglichkeit und Ausdrucksvielfalt, um die breit angelegte Rolle des Protagonisten (mit allen heldischen, kriegerischen, schwärmerischen, naturverbundenen Auftritten) ausfüllen zu können. Welcher damalis aktive Countertenor hätte ihr in dieser Perfektion folgen können?

Außerdem bietet sich durch Larmores eher feminines Profil der ideale Kontrast zu ihrem Gegenspieler Tolomeo. Derek Lee Ragin, der noch nie mit dem Schönklang eines Michael Chance oder Andreas Scholl punkten konnte, vermag hier mehr denn je seine charakteristische Stimmfarbe und seine virtuose Geläufigkeit in die Waagschale zu werfen. Als "reiner Liebender" (wie Orpheus oder der junge David) konnte er mich nicht überzeugen, als ägyptischer König, der mehr durch Neid, nervöse Begehrlichkeiten (und ein latentes Minderwertigkeitsgefühl?) getrieben als durch wirkliche Kraft geadelt wirkt, ist er, mit seiner immer etwas hysterischen Ausstrahlung, absolut erste Wahl.

Und noch eine weitere, ganz anders gelagerte Mezzo-Partie gesellt sich dazu: die tragische Rolle der römischen Witwe und Mutter Cornelia. Kaum eine Händel-Rolle ist so eindeutig auf langsame, expressive Arien (des Schmerzes, der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit) hin ausgerichtet und bietet im durchaus nicht unblutigen szenischen Verlauf so viele zu Herzen gehenden Ankerpunkte für verschmelzendes Mitgefühl. Die warme Klangfarbe und die zutiefst menschliche Ausstrahlung der Altistin Bernarda Fink, die sie mittlerweile auch im Liedfach von Schumann bis Mahler in die erste Reihe der Interpretinnen gehoben hat, weiß vom ersten Augenblick an Begeisterung und größte Sympathien aufzurufen.

Die Rolle des Sesto, des unter dem Druck des Rachesuchens stehenden Sohnes der Cornelia, würde heutzutage vielleicht von einem der neuen männlichen Sopranisten gesungen werden; ich bin jedoch ganz froh, daß René Jacobs hier mit der norwegischen Mezzo-Sopranistin Marianne Rorholm eine weibliche Sängerin erwählt hat, die genug Durchschlagskraft für den kämpferischen Furor, aber auch weiche Farben für die zurückgenommenen, leidenden Arien besitzt und gleichzeitig so schlank, leicht und jugendlich daherkommt, daß sie als Sohn gegenüber Bernarda Fink stets glaubhaft bleibt.

Zur Vervollständigung sei erwähnt, daß noch eine fünfte Partie den Reigen der Mezzos komplettiert: die des Eunuchen Nireno, des Vertrauten der Cleopatra, verkörpert durch Dominique Visse, einen französischen Countertenor der ersten Stunde, der bis heute im Amt ist als René Jacobs erster Mann für die komischen, kauzigen, das Geschehen um den Faktor Humor bereichernden Nebenrollen. In der im Anhang befindlichen, nur in einer Fassung vorkommenden Soloarie ist seine trotz des nasalen timbres leichte Höhe und Beweglichkeit zu bewundern.

Einzig die Besetzung der Cleopatra, der einzigen wirklichen Sopranpartie des Stückes, läßt Raum für Diskussionen. Barbara Schlick, die Engelsgleiche, die als mitleidende oder trostspendene „gläubige Seele“ in Bachs Passionen oder Brahms' Requiem Unübertreffliches geleistet hat, die aber schon in den Koloraturen der Mozartschen c-moll-Messe überfordert wirkt, kann die Breite des Ausdrucksspektrums der ägyptischen Königin nicht im Ansatz abdecken. Weder die höfisch taktierenden Machtaffinitäten, die kapriziösen Verführungskünste, noch die tiefe Leidenschaft aufrichtigen Liebens wirken bei ihr umfassend ausgelotet. Freuen kann man sich bei ihr über eine schöne Stimme, nicht viel mehr; da wäre eine dominantere, potentere Sopranistin nach dem Schlag Simone Kermes (mit der entsprechenden Portion Feuer und Zickigkeit) deutlich passender gewesen. Ich habe mal gehört, daß für diese Produktion eigentlich Maria Bayo (auch sie eine Belcanto-Spezialistin) im Gespräch gewesen wäre: Geschmacksache. Mich hätte die junge Dorothea Röschmann in dieser Rolle interessiert...

Und die Männer? Da der zentralen allegorischen Darstellung von Affekten ohrenscheinlich eher hohe Stimmlagen zugeordnet  waren, kamen den Tenören, Baritonen und Bässen in Barockopern tendenziell eher strukturell komplettierende Funktionen zu: ausführende Offiziere, Diener, Priester, Vertraute,- Figuren, die dabei halfen, das Denken und Empfinden der Protagonisten zu kommentieren, zu kommunizieren oder zu konkretisieren. Das bietet nicht häufig nicht allzuviel Raum für differenzierte, eigenständige Charakterzeichnungen, ist jedoch, wie alles bei Händel, auch im kleinsten Detail phantasievoll durchgestaltet und attraktiv für die Ausführenden. Die Baß-Rolle des Achilla, des Generals an der Seite des Ptolemeus, erhält im Vergleich jedoch nicht nur durch ihre intrigenschwere szenische Funktion ein bemerkenswertes Gewicht: der im Liebeswerben und durch die Untreue des eigenen Herrn schwer enttäuschte Militär bietet hier durchaus ein eigenes Profil, das durch Furio Zanasi, einen vertrauten Charakterkopf der italienischen Barockoper, kraftvoll und ausdrucksstark mit Leben gefüllt wird.

Über das Orchester muß zu guter Letzt kaum ein Wort verloren werden: Concerto Köln ist der vielleicht markanteste historisierende Klangkörper Deutschlands und gibt sich bestens in den temperamentvollen Duktus des Dirigenten hinein,- auf daß auch jeder Zuhörer in den händelschen Schwung hineingezogen werden, sich darin königlich amüsieren  - und danach geadelt daraus hervorgehen möge.

Cäsar bei amazon

Sonntag, 7. Juni 2015

Echt Glaubwürdig

Produkt-InformationCae Gauntt: Was uns bleibt


Gerth 2011

"Damit wir klug werden": das ist das Motto des evangelischen Kirchentags, der heute in Stuttgart zuende gegangen ist. Schon komisch: nur ganz von Ferne habe ich ihn wahrgenommen. Dabei war er mir in früheren Jahren mehrmals eine wichtige Inspirationsquelle, übrigens auch  musikalisch. 1987, vor 28 Jahren, war ich zum ersten Mal -komplett und auf eigene Faust- dabei, bin mit meinem Multifunktions-Eintrittsticket durch das für mich riesengroße Westberlin gefahren, habe christliche Musicals und Liedermacher aufgesucht und mich wohltuend erwachsen und frei gefühlt.

Cae Gauntt gab es damals auch schon. Ihre erste Platte war frisch herausgekommen und wurde an Verkaufsständen in vorderer Reihe angeboten. Andere Jugendliche erzählten begeistert davon, die junge Sängerin bei einer Bibelarbeit im Messezentrum live erlebt zu haben. Eine große Stimme habe sie, und eine große Ausstrahlung. Ich bedauerte, sie verpasst zu haben; zum Glück konnte ich mir die LP wenig später mal bei einer Klassenkameradin ausleihen.

Ich gebe zu, am Anfang musste ich mich erst reinhören. Als Sängerin ist sie tatsächlich untypisch für den deutschen "Sacro-Pop": eine kernige Soulstimme, mit hörbar amerikanischen Wurzeln, dunkel getönt und manchmal auch ein wenig gequetscht. Aber: mit Charakter, kein auswechselbarer, einfach nur schön klingender Jugendchor-Sopran... "Produziert von Dieter Falk" steht direkt unter dem Albumtitel mit den drei Buchstaben "CAE": der Mentor als Marke. Falk, der mit Pe Werner oder PUR durchaus langfristig erfolgreiche Künstler der deutschen Poplandschaft zu seinen Schützlingen zählen konnte, war sicherlich der richtige Mann, um einen Karriere-Grundstein zu zimmern, der auch nach den ästhetischen Erwartungen des Popmusik-Markts tragfähig sein sollte.

Popmusik mit religiösen Texten? Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen: Geschmacks- und Ansichtssache ist es sicherlich. Daß sich Künstler heutzutage ganz offiziell und in breitem Umfang auch in ihren Songtexten religiös verorten und christlichen Liedern zum Einzug in die Hitparaden verhelfen, ist vor allem deutschen Soulkünstlern wie wie Xavier Naidoo, Söhne Mannheims oder Glashaus zu verdanken. Ich persönlich finde das begrüßenswert, wenngleich mir weder apokalypische Vorwurfsraps noch Liebster-Jesu-Seelentröster-Romantik inhaltlich wirklich zusagen. Auch bei Cae wird man sicherlich über die ein oder andere textliche Aussage diskutieren können; aber Auseinandersetzung ist ja an sich keine verwerfliche Angelegenheit, weder wenn es um Kunst, noch wenn es um Religion geht.

"Was uns bleibt" heißt nun ihre CD von 2011. Das scheint nicht ganz unprogrammatisch und nicht ganz unpersönlich gemeint zu sein, schließlich ist diese Produktion eine Art "Best of"-Album: welche Lieder bleiben denn, nach 24 Jahren Musiker-Sein, im Dienste des Glaubens, aber auch im Wechsel der Zeiten, der Geschmäcker, der Inspirationen? Die Fans selbst wurden nach ihren Lieblingsliedern gefragt,- ein schöner Ansatz, finde ich, mit einem noch schöneren Ergebnis, denn all meine persönlichen Favoriten sind dabei. Das sind vor allem die ruhigeren, melodiöseren Lieder, die innigeren Texte. Jene Songs, die ohrenscheinlich ein fröhliches Christ-Sein propagieren und die Tanzbarkeit bzw. Radio-Kompabilität religiöser Inhalte beweisen sollten (also jene Lieder, an denen ich mich bei früheren Platten stets vorbeizappen musste), haben allesamt den Kürzeren gezogen. Die Zielrichtung der ersten beiden Alben, Cae in erster Linie als vielseitige Sängerin irgendwo zwischen Gospel und HardRock zu präsentieren, ist Authentizität und Klarheit gewichen, bar aller stilistischen Koketterie. Gut so. Das liegt im besonderen Maße wohl auch an ihrem musikalischen Begleiter Florian Sitzmann, der schon zu Cae's zweitem Dieter-Falk-Album mehrere wunderbare Kompositionen beisteuerte und seit "Welt von 1000 Wegen" (1995) die musikalische Leitung vollständig übernommen hat. Übrigens damals schon mit einer Besetzung, die später als Basis der "Söhne Mannheims" Erfolgsgeschichte schreiben sollte: klein ist die Welt. War "Petrographs" von 2004 noch eher ein experimentelles, düsteres, wenig eingängiges Werk, so scheinen Cae und Sitzmann bei "Was uns bleibt" endgültig angekommen zu sein: bei ihrer Musizierfreude, bei der Wertschätzung der Vorlieben ihrer Fans, bei einem liebevollen und doch erneuernden Blick auf ihre alten Erfolge.

Warum sollte man "Lieblingslieder" noch einmal neu aufnehmen? Wenn jeder sie doch -in einer ans Herz gewachsenen, oftmals gehörten Version- so gut im Ohr hat? Zu Beginn war ich angesichts dieses Konzeptes auch eher skeptisch, ging davon aus, diese CD "nicht auch noch brauchen zu müssen". Ein aufmerksames erstes Hören überzeugte mich sogleich eines Besseren, und wohl einen Monat lang verließ die CD den Player nur ausnahmsweise. Natürlich, manches Lied ist in unerwarteter Weise verändert gegenüber dem Original, und nicht immer nur in eine Richtung, die mir zusagt. Der Balladen-Schwerpunkt dieses Albums machte wohl eine gewisse Umstilisierung erforderlich: manches musste (ein wenig) schneller, manches (noch) langsamer werden, allein um dann doch eine gewisse Vielfalt zu gewährleisten. Das, was dabei herausgekommen ist, ist ein Album aus einem Guss, spielfreudig, natürlich, mit der heute (erfreulicherweise!) allseits vorherrschenden Tendenz, zum akustischen, handgemachten Klang zurückzukehren.

Das tut den Liedern am wohlsten, die zur Zeit ihrer Geburt unter der Vorherrschaft der elektronischen Klangerzeugung zu leiden hatten. "Hier" gewinnt hier, den synthetischen Hall-Wolken und knallenden Drumsamples der 80er entledigt, als freundlicher Gitarrensong endlich an Direktheit und Temperament - und  befreit mich von dem Impuls, ständig die Lautstärke herabregeln zu wollen (die harmonische Vereinfachung kann ich allerdings nicht nachvollziehen: gefällt Euch Musikern das wirklich besser so?). "Every star", das eindrücklichste und größtformatige Beispiel Sitzmann'scher Kompositionskunst, darf hier endlich sein, was es ist: eine gefühlsstarke, klassische, innige Klavierballade, gespielt auf einem echten Flügel, klanglich ergänzt um die improvisierte Oberstimme eines weiblichen Fans. Und der Titelsong "Was uns bleibt", der (wie schon auf "Circle of love") als zwölftes Lied das Album abschließt, war schon damals nicht schlecht,  hat jetzt aber noch einmal an Ruhe und Charakter zugewonnen, wirkt im Grundrhythmus entspannt rollend und episch gedehnt, von Solo-Egitarre und Klavier improvisatorisch umspielt, satt geerdet, feiert die Liebe als Nährboden für alles Gewesene und Kommende, beständig und fließend gleichermaßen. Gut gemacht.

Besonders spannend finde ich die interpretatorische Verwandlung bei zwei Liedern, die ich zuvor immer als Geschwister empfunden (und auch schon mal verwechselt habe), die beide das "Zuviel" im Leben und die Gefahr des Ausbrennens thematisieren - und die beide im Original epiano-betont, poppig durchdesignt und eher glatt daherkommen: "Ich steh zu Dir" ('89) wechselt hier ganz seine Gestalt, greift nach groovender akustischer Gitarre, Fender Rhodes und Cajon und fasst das Thema bei seinen lebensbejahenden Wurzeln. Daß Zeilen wie "Die Augen voller Tränen, die Hände vorm Gesicht" dabei weniger glaubwürdig herüberkommen, habe ich längst verschmerzt angesichts des Zugewinns an Lebendigkeit und Binnenspannung, die auch dem youtube-video abzuspüren ist. Der "Zwilling" von '87 "Nichts verloren" hat die genau entgegengesetzte Entwicklung hinter sich: stark verlangsamt, rhythmisch fast ausgebremst, in flexibler, erzählender Agogik ist er nun die große, dramatische Begegnung zwischen Stimme und Flügel kurz vor Ende des Albums, ein emotionaler Aufschrei von großer Glaubwürdigkeit, und ein Beweis großer Klavierbegleiterkunst.

Nicht glücklich bin ich allerdings mit der neuen Version von "Reaching out" ('89): Ich verstehe auch hier das Bedürfnis, mehr Leichtigkeit und "Blues" in die Sache zu bringen, aber die breite hymnische Melodie, die auch einer Whitney-Houston gut zu Gesicht gestanden wäre, hätte wirklich mehr Saft und Sahne vertragen können. Ebenso "Sehnsucht", mein bisheriges Lieblingslied von 1991, dessen harmonisch höchst ausgeklügelte, eindeutig tasten-orientierte, filmmusik-ähnliche Struktur hier in der Blues-Gitarren-Version zwar gerader, aber auch deutlich flacher -und längst nicht so ergreifend- daherkommt. Also doch noch was zum Drüberzappen.

Umso schöner, daß es auch neue Lieder zu feiern gibt: "Ruhiger bei Dir" und "The Rescue" sind Klavierballaden der feinsten Art, Neubegegnungen zum Innehalten, zum Wieder- und Wiederhören, die mir längst ebenso ans Herz gewachsen sind wie so viele andere Cae-Songs zu vor. Wann werde ich endlich einmal die Möglichkeit haben, diese charismatische Sängerin live zu erleben? Vielleicht sollte ich mich doch einmal wieder um das Programm des Evangelischen Kirchentags bemühen,- dann wäre ich klüger...

CAE bei amazon

Montag, 1. Juni 2015

Entwaffnend

Produkt-Information Katrin Sass: Königskinder


edel 2013

Das kennen Sie sicherlich auch: daß Sie eine Musik mit einer bestimmten Landschaft oder einem besonderen Ort verbinden,- dem Ort, an dem Sie sie zum ersten Mal oder besonders intensiv oder besonders häufig gehört haben. Meine heutige Empfehlung gehört für mich in die brandenburgische Seenlandschaft, genauer gesagt nach Ferch an den Schwielowsee. Dort habe ich diese CD beim pfingstlichen Camping im letzten Jahr zum ersten Mal - und dann rauf und runter gehört. Am vergangenen Wochenende war ich mal wieder dort,- und dabei stiegen auch die alten Melodien wieder auf.

Die Platte passt ganz gut nach Brandenburg, finde ich, mit ihrem Charakter als "(ost)deutscher Liederzyklus", gesungen von der Schauspielerin, die ich vor allen anderen mit DDR-Themen verbinde. Möglicherweise mag Katrin Sass schon lange nicht mehr auf ihre Paraderolle als liebevoll hinters Licht geführte Mutter in "Goodbye Lenin" angesprochen werden, und doch werde ich sie wohl immer als solche vor mir sehen. Damals lag sie im Krankenbett und bekam beim Geburtstagsbesuch der Hausgemeinschaft von fiktiven Jungen Pionieren das Lied "Unsere Heimat" vorgeträllert: ein DDR-Klassiker, der mir (als wenig vorgebildeter Wessi) durch seine charmante Melodik und die originellen Taktwechsel sogleich als nachspielenswert auffiel. Nun singt Katrin Sass es selbst, und dazu viele andere Lieder, die in ein (n)ostalgisch-gesellschaftspolitisch engagiertes Liederbuch passen würden. Karats "Sieben Brücken" sind dabei, der poetische Ostrock-Klassiker "Als ich fortging" (mein Lieblingslied, gibt es übrigens auch in einer Version mit Sarah Connor), dazu, weit oberhalb der Mauer rübergesegelt, Reinhard Meys Fliegerballade "Über den Wolken". Desweiteren trifft Brechts "Mackie Messer" auf friedens- bzw. umweltpolitisch engagierte Liedkunst wie "Sag mir wo die Blumen sind" oder "Reichtum der Welt".

So ist also einiges dabei, das man selbst auch schon mal gesungen haben könnte, zur eigenen Gitarre oder der von den Kumpels, am Lagerfeuer, am Seeufer oder auf der Bettkante in der Studentenbude sitzend. Hätte man es denn auch so singen können, wie Katrin Sass es tut? In vielen Fällen: ja. Sie ist keine Sängerin und macht auch keine Anstalten, dies zu behaupten. Sie singt wie sie spricht, man wird ihre Stimme sofort erkennen: schlank, leicht und sehr kühl, in den hellen Vokalen bisweilen auffallend nasal. Sie hat (anders als so manche anderen Schauspieler-Sänger) weder Probleme mit den Tonhöhen, noch mit der Höhe, allerdings verfügt sie über wenig Farben in Klang und Ausdruck, phrasiert bisweilen geradezu ungeschickt, wird in der Emphase ziemlich eng und auch ein bißchen platt.
Das klingt nicht gerade nach Werbung, ich weiß. Warum also sollte man sich diese CD anhören? Weil sie echt ist. Katrin Sass singt Lieder, die ihr wirklich etwas bedeuten, und sie tut das auf ungeschönte, authentische, grundehrliche Weise, wie Du und Ich es auch könnten. Sie wendet keine unlauteren Mittel an: sie überwältigt nicht mit emotionalem Pathos, sie rechtfertigt sich nicht mit agitativem Impetus, sie kokettiert weder mit intellektuellem Gestus noch mit Schlafzimmer-Geflüster (wie so manch andere "Sängerin ohne Stimme"). Man kann das zu wenig finden...

...und ich denke, ich würde die CD auch nicht so lieben, wenn die Instrumentalisten nicht wären. Das, was die Gruppe um Hans-Dieter Lorenz (Kontrabass), Uli Moritz (Drums und Percussion), Joo Kraus (Trompete und (wunderbar!) Flügelhorn) und den Spiritus Rector Henning Schmiedt (der in all seiner Vielseitigkeit nicht zum letzten Mal in einer Rezension auftauchen wird...) aus den altbekannten Liedern herausholen, ist vom Feinsten. Aus dem Jazz kommen sie, verwandeln die "Brücken" in einen schillernden langsamen Blues, lassen die Heimat aus folkloristischer Lyrik in groovigen Akustik-Rock hineinwachsen, zaubern (mit Hilfe des im Ost-Chanson alles andere als unbekannten Cellisten Jens Naumilkat) sowohl klassisch fundierte Kammermusik als auch saftigen Tango im Piazolla-Stil. Als Basis für letztere dienen u.a. auch die fünf Repertoire-Neuzugänge: Lieder, die für die Fernsehserie "Weissensee" neu komponiert wurden, vornehmlich mit kritischen Untertönen und reichlich Melancholie - wie zum Beispiel die titelgebende Ballade "Königskinder", welche das Drama der unglücklich Liebenden als Maueropfer-Tragödie nacherzählt. Das ist sprachlich sehr einfach, geradezu kunstlos, aber gerade dadurch entwaffnend ehrlich und direkt. Entwaffnung: das ist schließlich eine der Hauptzielrichtungen dieser CD, die ich eigentlich noch eine richtige "Schallplatte" ist.

Resumee? Es gibt viele Gründe, an dieser CD vorbeizugehen, ohne etwas zu vermissen. Sie ist eine Einladung, irgendwo am Wegesrand in der Seenlandschaft Brandenburgs, die man bemerken kann oder nicht. Wenn man sich aber auf sie einläßt, kann Neugier, Wiedererkennen - und eine lange, echte Freundschaft entstehen.

(War das jetzt doch zu pathetisch?)

Königskinder bei amazon

Montag, 25. Mai 2015

Made in Sweden

Produkt-InformationTommy Körberg: Livslevande

Mono Music 1990

Liebe Leute. Sorry, daß ich doch noch einmal auf den Grand Prix Eurovision zurückkomme, das habe ich eigentlich gar nicht vorgehabt. Und ich glaube, wenn Italien gewonnen hätte oder gar Russland, wäre ich darüber auch stillschweigend hinweggegangen,- schließlich habe ich genügend andere Themen in der Hinterhand. Aber Schweden: das rührt schon an ganz alte Erinnerungen. Das ist große Eurovisions-Geschichte.

Ich meine ausnahmsweise mal nicht ABBA (auch wenn "Waterloo" wahrscheinlich für alle Zeiten der unangefochten erfolgreichste, maßstabsetzendste Siegertitel bleiben wird). Daß die Schweden heutzutage die Sprache des universal eingängigen und dabei doch gut gemachten Popsongs am besten verstehen, beweisen nicht nur Siegertitel wie der diesjährige "Heroe" oder "Euphoria" von gerade mal zwei Jahren, sondern auch der Umstand, daß bei mindestens zwei weiteren Wettbewerbsbeiträgen pro Jahr gezielt schwedische Produzenten hinzugezogen werden. Aber auch dies ist nicht der Aspekt, über den ich mich hier ausbreiten möchte. Vielmehr geht es mir um meinen ganz persönlichen allerallerliebsten GrandPrix-Beitrag, Schweden 1988. Kein erster Platz damals, aber trotzdem nicht mehr aus meinem Kopf zu bekommen.

Ich hatte alle Songs des Abends (wie schon im Jahr zuvor) mit dem Radiorecorder meines Vaters auf Audiokassette aufgenommen, in recht passabler Tonqualität, aber ohne die Namen der Künstler mitzuschreiben. In der Vor-Internet-Zeit gab es nun keine Möglichkeit mehr, herauszufinden, wer dieser Sänger war, der (trotz noch nicht ganz überwundener Kehlkopfentzündung) mit höchst eindrucksvoller Stimme die wunderschöne Ballade "Stadt aus Licht" gesungen hatte. Celine Dion war die Entdeckung des Abends, von Platz 12 sprach keiner mehr, der Sänger verschwand mitsamt seinem Lied im Dunkeln. Ich trauerte ihm hinterher, mit dem Pathos des beginnenden Eurovisions-Junkies.

Im Jahr 2003 oder 04 gelang es mir, in einem modernden Antiquariat endlich ein Exemplar des ständig vergriffenen Standard-Werkes "Ein Lied kann eine Brücke sein" von Jan Feddersen zu ergattern: der Schmöker, der in wissenschaftlicher Chronologie alle Teilnehmerlisten, Punktetabellen und zudem viele interessante Hintergrundinformationen enthält. Mein erster Blick galt dem Jahr 88 - und entschleierte mir endlich die Identität meines Lieblingssängers: Tommy Körberg. Die Überraschung war perfekt: Das war tatsächlich derselbe Tommy Körberg, der mir seit Mitte der 80er, ab dem Zeitpunkt, in dem er mir als Hauptprotagonist des Musicals "Chess" (aus der Feder der Abba-Macher Anderson und Ulvaeus) erstmals begegnet war, als beste männliche Musicalstimme überhaupt erschien. Charakterstark, charismatisch, substanzreich, im Ernstfall mit großer Durchsetzungskraft, aber auch des zartesten Schmelzes fähig, und dies alles ohne jemals zu knödeln, zu schreien oder zu fisteln. Warum ist dieser Sänger nur international so wenig präsent, dachte ich mir immer. Es war eine große Freude, ihm (mit ca. 15 Jahre verspäteter Erkenntnis) im Grand Prix wiederzubegegnen. Nun galt es, ihn darüber hinaus genauer kennenzulernen.

Beim Herumstöbern in seiner Diskographie fand ich viel Reizvolles. Die Doppel-CD "Gränslös"  aus dem Jahr 2003 ist eines der best recherchiertesten, umfassendsten "Best-of"-Alben, das mir je in die Finger gekommen ist. Einen Zeitraum von 35 Jahren umfassend bildet es die verschiedensten Aspekte und Phasen seiner künstlerischen Vita von Rock über Folk und Chanson zu Musical ab und muß wohl als der gründlichste Weg gelten, dieses grandiosen Künstler kennenzulernen. Ich persönlich konnte mich allerdings noch nie so recht anfreunden mit dem ständigen Auf und Ab an Stilen, Stimmungen und Soundqualitäten, das Anthologien so mit sich bringen. Der ständige Griff nach der "Skip"-Taste läßt das Gefühl eines wirklich zusammengehörenden Stücks Musik letztlich nicht aufkommen. Drum möchte ich heute einen anderen Geniestreich empfehlen: Das Live-Album "Livslevande".

Das ist echte Musik. Ich gebe ja zu: wenn Körberg dazu singt, kann ich auch mal 60er Rock-Schnulzen, dicken Hollywood-Orchestern oder swingenden Big-Band-Klängen etwas abgewinnen. Aber so habe ich es doch am liebsten: eine kleine, filigran aufeinander abgestimmt Combo aus Flügel/Keyboards (Stefan Nilsson), Gitarren (Mats Bergström), Baß (Teddy Walter) und Drums (André Ferrari). Allesamt sind sie am Jazz geschult, zeigen sich phantasievoll und spielfreudig, mit vielen kontrastreichen Details, harmonischen Einfärbungen und ornamentalen Virtuossitäten - und bieten ihrem Sänger damit ein hörbar inspirierendes Feld für eine stimmliche Vielfarbigkeit, die ihres Gleichen sucht. Folkloristische Intimität, blousiges Anrauhen, romantisches Säuseln, humoristisches Deklamieren: bei ihm hat einfach alles gleichermaßen Klang und Klasse.

Gemeinsam durchstreifen die 5 Herren Körbergs Repertoire und beleuchten es noch einmal auf neue, angejazzte Weise, beginnen mit einem Medley aus Liedern des französischen Film-Komponisten Michel Legrand, hier besonders charmant in schwedischer Sprache, kommen dann zu Kurt Weill, dem sie in "Speak low" überraschend Tempo verleihen. Später dann 4 Lieder von Jaques Brel, ebenfalls in schwedischer Übersetzung, in der Sichtweise, die Körberg und Nilsson auf ihrem Brel-Album entwickelt haben: temperamentvoll, geradeheraus, gestaltungsfreudig, ausdrucksstark, ohne das sentimentale Lamento, das vielen anderen Brel-Interpreten anhaftet. Meine Lieblingslieder dieses Albums sind allerdings die schwedischen Originale: das volksliedhafte, harmonisch delikat ausgeleuchtete "Nu har jag fatt den jag vill ha", das in den verswingten Walzer "Nu är det gott att leva" überleitet. Oder auch die Nilssonssche Originalkomposition "Likgiltigheten är en form", ein kunstvoll verschraubter Klaviergroove Keith-Jarrettscher Prägung, der im Verlauf gewaltig an improvisativer Fahrt aufnimmt: alles andere als Easy-listening...

Schade nur, daß Körberg bei seiner Liederreise nicht auch bei der "Stad i ljus" vorbeikommt: sein Eurovisonsbeitrag hätte längst eine kehlkopfentzündungs- und Grand-Prix-Orchester-freie akustische Neuversion verdient.

Tommy bei amazon